Ruhrgebiet – Der krasse Unterschied zwischen Selbst- und Außenwahrnehmung
Nirgendwo in Deutschland unterscheiden sich Selbstwahrnehmung und Außenwahrnehmung mehr als im Ruhrgebiet. Dinge, die anderswo im Land zu einem Störgefühl führen, werden im Ruhrgebiet als nicht problematisch empfunden. Was bewirkt und was für Folgen hat das?
Der Bundeskanzler hält das nördliche Ruhrgebiet für verwahrlost, im Ruhrgebiet finden viele den Zustand und die Lage nicht so nicht schlimm, weil “Woanders ist auch scheiße.” Von außen wird das Ruhrgebiet oft ganz anders gesehen, als es die Bewohnerinnen und Bewohner selbst wahrnehmen.
Auch gibt es einen Unterschied in der Wahrnehmung zwischen nördlichem und südlichem Ruhrgebiet, also den Städten und Stadtteilen, die sich nördlich der A40 befinden und jenen, die südlich liegen. In Bochum also zwischen Stadtteilen wie Wattenscheid, Riemke, Hamme und Gerthe im Vergleich zu Linden, Weitmar, Eppendorf und Stiepel.
Im Ruhrgebiet sieht man traditionell nur sich selbst
In den Städten des Ruhrgebiets schaut man traditionell nur auf sich selbst. Wie es außerhalb des Ruhrgebiets läuft, interessiert nicht. Man vergleicht sich ungern mit Städten von außerhalb, das könnte zu unangenehmen Ergebnissen führen könnte.
So erklärt der neue Oberbürgermeister von Bochum, dass er die Bürger und Bürgerinnen der Stadt befragen will, wie sie das Leben in der Stadt bewerten, wo sie Dinge kritisch sehen und wo sie Verbesserungen für nötig halten. Grundsätzlich keine schlechte Idee, doch Außenstehende zu fragen, was sie von der Stadt halten, warum sie nicht herziehen wollen oder weggezogen sind, traut er sich nicht.
Dabei ist für die positive Entwicklung einer Stadt gerade entscheidend, wie steht sie im Vergleich zu anderen Städten da. Die Ruhrgebietsstädte müssten sich fragen, warum gehen Unternehmen, Geschäfte, Menschen oft lieber in andere Städte und siedeln sich ungern im Ruhrgebiet an? Würden Städte wie Gelsenkirchen, Bochum, Essen oder Duisburg ihre Außenwahrnehmung abfragen, würde man auch auf unangenehme Wahrheiten gestoßen und müsste sich damit auseinandersetzen. Das ist unangenehm, also fragt man lieber nicht nach.
Meister des Schönredens und Rausredens
Über Jahrzehnte haben sich die Städte ihre Lage schöngeredet und sind Meister darin geworden, Ausreden zu finden, warum man nicht vorankommt. Schuld an der Misere sind immer andere. Der niemals endende Strukturwandel ist Ursache von allem und jedem , ebenso wie viel zu wenig Geld von Land und Bund. Warum man es in über 60 Jahren nicht geschafft hat, sich als weltweit sichtbare Ruhrstadt-Metropole aufzustellen und zu profilieren, wird nicht hinterfragt. In Städten, in denen es nicht ganz so schlecht läuft, wie Essen, Dortmund und Bochum, verweist man gerne auf Gelsenkirchen, Oberhausen und Duisburg, gegenüber denen man doch besser dastehe.
Lokale Presse und Politik verkaufen kleine Fortschritte gerne als großen Wurf zur Weltstadt. Eine Einordnung im Vergleich zu modernen und fortschrittlichen Städten wird in der Regel weggelassen. In solchen Städten lange selbstverständliche Einrichtungen und ganz normale Entwicklungen wie der Bau eines größeren E-Ladeparkplatzes, die Eröffnung von neuen Supermärkten in Stadtteilen, die Verlegung von Glasfaserkabeln, die Anlage eines neuen Radwegs oder die Sanierung von U-Bahnaufzügen werden zu Meilensteinen der Stadtentwicklung aufgebauscht.
Nur zu gerne berichtet man darüber, dass sich auch das Ruhrgebiet in Richtung Zukunft entwickelt. Nichts liest man dagegen darüber, dass das nur mit einem Entwicklungstempo von 20 km/h geschieht, während moderne, fortschrittliche Städte mit Tempo 200 unterwegs sind. In der Selbstwahrnehmung ist man der Meinung, es tut sich was, in der Außenwahrnehmung werden die Ruhrgebietsstädte weiter als abgehängt wahrgenommen, weil sich zu wenig tut.
Auf Erfolge wie Mark 51°7 in Bochum stolz zu sein, ist nichts Falsches. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese positive Entwicklung nur mit einer in Deutschland beispiellosen Subvention von über 100 Mio. Euro möglich war. In der Selbstwahrnehmung sieht sich Bochum als erfolgreich in der Wirtschaftsentwicklung, von außen betrachtet, erkennt man die Entwicklungsleistung der Stadt an, weiß aber auch, ohne die gigantische Steuergeldspritze, sähe es auf Mark 51°7 heute sehr bescheiden aus.
Störgefühl fehlt
Dass man sich über Jahre viele Dinge schöngeredet hat, führt dazu, dass es im Ruhrgebiet, oft an einem Störgefühl fehlt, wenn Dinge schieflaufen. Wenn der Stadthaushalt in zwei Jahren mit über 200 Mio. überzogen werden soll, würde das sonst bei Medien und Gesellschaft große Diskussionen auslösen. In Bochum bei 2 Mrd. Schulden, wird getan, als wäre nichts passiert. Erst wenn das böse Erwachen mit einem Haushaltssicherungskonzept kommt, wird man sich überrascht zeigen, wie es dazu kommen konnte.
Wenn 55 Mio. in ein Stadion mit 16.600 Menschen Fassungsvermögen investiert werden (Lohrheidestadion), ohne dass die Stadt einen Plan hat, welche Veranstaltungen das Stadion füllen sollen, würde das üblicherweise zu lautstarken Protesten und viel Kritik führen. In Bochum geschieht das selbst dann nicht, wenn sich zeigt, dass mehr als 3.000 Menschen pro Veranstaltung nicht kommen.
So hat man in Bochum auch ein Musikforum gebaut, an dem es jeden Tag musikalische Veranstaltungen geben sollte. Jetzt findet dort kaum mehr als zweimal die Woche ein Konzert der Bochumer Symphoniker statt. Obwohl das Versprochene nicht ansatzweise erreicht wurde, tut man trotzdem so, als sei das Konzerthaus eine Erfolgsgeschichte.
Ein Außenstehender fragt sich, wie kann es zu solchen Fehlentscheidungen und Falschwahrnehmungen kommen, warum gab es bei der Projektierung kein Störgefühl. Im Ruhrgebiet neigt man dazu, sich die eigene Wahrnehmung zurechtzubiegen. Man vergisst schnell, mit welchem Ziel man angetreten ist, und gibt sich mit dem Wenigen zufrieden, das erreicht wurde: Jetzt ist das Stadion oder Konzerthaus halt da und sieht doch ganz schön aus, also müssen die Projekte schon deswegen ein Erfolg sein.
Während die Politik im Ruhrgebiet davon überzeugt ist, dass sie mit einer Olympiabewerbung mit anderen Metropolen mithalten kann, wird das Ruhrgebiet von außen in vielen Teilen als wenig vorzeigbare Ansammlung von abgehängten Städten gesehen, die es nicht schaffen, sich als Metropole zu organisieren und die dafür erforderliche metropolengerechte Infrastruktur zu schaffen. Unterschiedlicher als in diesem Fall können Selbst- und Außenwahrnehmung kaum sein.
In der Außenwahrnehmung lösen kaputte Straßen und Gehwege, massenhaft zugeparkte Gehwege und Kreuzungen, Marktplätze, die eigentlich Parkplätze sind, Leerstände, ein unzuverlässiges ÖPNV- und Radwegenetz mit großen Lücken, zugeparkte Straßen ohne Bäume, laute Hauptverkehrsstraßen gesäumt von Immobilien mit sichtbar hohem Sanierungsbedarf erhebliche Störgefühle aus. Das entspricht 2025 nicht mehr dem Standard bei Stadtgestaltung und Stadtentwicklung, den man üblicherweise in europäischen Städten vorfindet. In der Selbstwahrnehmung des Ruhrgebiets werden die Zustände von vielen als völlig normal wahrgenommen. Jede und jeder kennt noch eine Stadt oder einen Stadtteil, wo es noch schlimmer aussieht. Einen Anlass für nötige Veränderungen wird oft nicht gesehen.
Skurril wird es, wenn lokale Medien die Menschen fragen, welche Geschäfte sie sich in den von Leerständen und negativen Entwicklungen geprägten Innenstädten des Ruhrgebiets wünschen. Es wird so getan, als müssten die entsprechenden Unternehmen nur angefragt werden, dann würden die schon kommen. Die zugrunde liegende Selbstwahrnehmung hinsichtlich der Attraktivität der Innenstädte ist weltfremd. Dass entsprechende Geschäfte gar nicht beabsichtigen zu kommen, weil sie beim Blick von außen sehen, dass die Innenstädte des Ruhrgebiets nicht das in Sachen Stadtgestaltung, Ambiente, Flair und Verkehrsorganisation bieten, was in erfolgreichen Innenstädten selbstverständlich und für einen geschäftlichen Erfolg unverzichtbar ist, wird bewusst unterschlagen. Es ist nicht Teil der eigenen Wahrnehmung.
Wettbewerb der Städte – Perspektivwechsel nötig
Im Ruhrgebiet fehlt das Verständnis, dass sich die Städte in Deutschland und Europa, ja sogar der Welt in einem Wettbewerb um Unternehmen, Geschäfte und Menschen befinden. Jedes Geschäft und Unternehmen kann es sich aussuchen, in welcher Stadt es sich ansiedelt. Gleiches gilt für die Menschen, immer mehr können die Stadt auswählen, in der sie wohnen und leben wollen. Für diese Lebensort- oder Standortentscheidungen spielt die Außenwahrnehmung einer Stadt die entscheidende Rolle, die Selbstwahrnehmung ist dagegen gänzlich unwichtig.
Das Ruhrgebiet benötigt also einen Perspektivwechsel. Menschen, Politik und lokale Medien müssen sich sehr viel mehr dafür interessieren, wie die Ruhrstädte von außen wahrgenommen werden. Es muss hinterfragt werden, wo steht man als Stadt im Vergleich zu dem dar, was zeitgemäß und in anderen Städten üblich ist. Wie sind Entwicklungen und Zustände im Ruhrgebiet einzuordnen, wenn man sich erfolgreiche und fortschrittliche Städte als Maßstab nimmt? Was muss sich ändern, damit man im Wettbewerb der Großstädte mithalten kann? Was kann man von anderen Städten lernen?





