Armut in abgehängten Stadtteilen nimmt bedenklich zu
Immer mehr Menschen müssen in Bochum von Sozialleistungen leben. Doch die Entwicklung ist nicht in allen Stadtteilen gleich. Von 2006 bis 2019 nahm der Anteil der Menschen, die ALG II oder Sozialgeld beziehen, in den Stadtteilen, die sich seit Jahren negativ entwickeln, massiv zu, während er in den Stadtteilen abnahm, die in Bochum als besonders lebenswert gelten. Was sind die Ursachen? Was kann die Stadt tun?
Insgesamt wuchs der Anteil der Menschen, die auf den Bezug von ALG II oder Sozialgeld in ganz Bochum angewiesen ist von 2006 bis 2019 um 8,7% (Sozialdaten Bochum). Während er aber in Stadtteilen wie, Grumme (-20,7%), Weitmar-Mark (-23,1%) und Südinnenstadt (26,3%), in denen der Anteil bisher schon relativ niedrig lag (unter 10%), stark gesunken ist, stieg er in Stadtteilen, in denen er ohnehin hoch (über 15%) lag nochmals drastisch an: Leithe (+32,7%), Wattenscheid-Mitte (+32,1%), Westenfeld (+23,6%).
Die Ursachen für die Entwicklung
Insgesamt bedeutet das, die ärmeren Stadtteile werden tendenziell immer ärmer, die reicheren Stadtteile reicher. Die Menschen, die auf Transferleistungen angewiesen sind, ziehen in die ärmeren Stadtteile, weil sie sich nur da das Wohnen leisten können, die Menschen mit gutem Einkommen ziehen in die reicheren Stadtteile, auch weil das Stadtbild und die Sozialstruktur der ärmeren Stadtteile, für sie nicht mehr attraktiv ist.
Sozialer Aufstieg ist in Bochum viel zu selten möglich
Als zweite wesentliche Ursache für die Entwicklung ist zu nennen, sozialer Aufstieg ist in Bochum weiterhin viel zu wenigen Menschen möglich, Bildungsgrad und gesellschaftlicher Stand werden in der Regel vererbt. Entsprechend ist in den Stadtteilen, in denen die Zahl der Menschen, die von Transferleistungen leben müssen, hoch ist, auch der Index der Schulempfehlungen für die weiterführenden Schulen am niedrigsten.
In fünf Stadtteilen (Hamme, Westenfeld, Kruppwerke, Werne, Wattenscheid-Mitte) bekommen über 50% der Grundschüler in der vierten Klasse eine Empfehlung für die Hauptschule oder maximal eine eingeschränkte Empfehlung für die Realschule. Alle fünf Stadtteile zählen zu den Stadtteilen mit den höchsten Anteilen an Transferleistungsempfängern. Der Anteil der Menschen, die von ALG II oder Sozialgeld leben, liegt in allen fünf Stadtteilen bei über 20 bis fast 30% und ist im Zeitraum von 2006 bis 2019 deutlich gestiegen (Sozialdaten Bochum), in Hamme signifikant (+7,7%) in den anderen Stadtteilen stark (mehr als 15%) in Wattenscheid-Mitte sogar extrem (+32,1%).
Sozialer Aufstieg war und ist in Bochum nie ein politisches Ziel gewesen. Im Fokus der Sozialpolitik stehen pressewirksame Maßnahmen und Konzepte zur Linderung bereits bestehender und eingetretener Armut, die Bekämpfung und Vermeidung von Armut ist hingegen kein Ziel, das vorrangig verfolgt wird.
Gute Schulen und Bildung, die am besten Armut vorbeugen, standen nie im Fokus der Bochumer Politik. Wie der Zustand der Schulen und deren Ausstattung zeigt, herrscht in der Stadt Bildungsnotstand. In der Politik besteht bisher keine Bereitschaft für eine wirksame Bildungsoffensive, um Kindern und Jugendlichen, die in Familien aufwachsen, die auf Transferleistungen angewiesen sind, den sozialen Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen.
Die beschriebene Entwicklung wird bisher von der Stadtpolitik mehr oder weniger achselzuckend hingenommen. Diese Untätigkeit ist aus Sicht der Betroffenen wie aus Sicht der Stadtentwicklung fatal. Die Problemlagen von Stadtteilen wie Wattenscheid-Mitte entwickeln sich Jahr für Jahr ungebremst weiter in Richtung von denen in Marxloh, Altenessen und Dortmund Nordstadt.
“Arme” Stadtteile werden für Menschen mit guten und hohen Einkommen immer unattraktiver
Ebenfalls ist die Stadt nicht in der Lage die soziale Schieflage in den Stadtteilen zu beheben und diese wieder für Gesellschaftsschichten attraktiv zu machen, die über gute und hohe Einkommen verfügen. Das zeigt sich ebenfalls besonders am Stadtteil Wattenscheid-Mitte. Die Maßnahmen, die im Rahmen des ISEK-Wattenscheid, seit 2014 auf den Weg gebracht wurden, reichen nicht ansatzweise aus um die negativen Entwicklungen zu stoppen. Zu befürchten ist, dass bereits ein Zustand eingetreten ist, der sich nicht mehr zurück drehen lässt, weil die Politik nicht bereit war, rechtzeitig mit der notwendigen Konsequenz zu handeln. Der Stadtteil und besonders die Wattenscheider Innenstadt sind nicht mehr vorzeigbar. Menschen, die es sich leisten können, ziehen weg bzw. gar nicht erst hin.
Auch bei der Bevölkerungsentwicklung zeigt sich, die Zahl der Einwohner*innen nimmt in den armen, sich negativ entwickelnden Stadtteilen tendenziell ab, in den reichen Stadtteilen mit positiver Entwicklung tendenziell zu.
Was ist zu tun?
Um die wachsende Armut und zunehmende “Verarmung” der genannten Stadtteile zu stoppen, muss die Stadt endlich die Ursachen von Armut bekämpfen und die Stadtteile wieder für alle gesellschaftlichen Schichten attraktiv machen.
Die Stadt muss dringend eine kommunale Bildungsoffensive auf den Weg bringen, um den Kindern in voller Breite sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Es reicht nicht, sich darauf zu beschränken die Fördermittel des Landes abzugreifen, die Stadt muss selbst aktiv werden und alles dafür tun, dass 95% der Kinder die Grundschule mindestens mit einer Realschulempfehlung verlassen.
Zum zweiten muss die Sanierung und Modernisierung sich negativ entwickelnder Stadtteile massiv verstärkt werden. Es ist nicht ausreichend, Geld bereit zu stellen, damit ein paar der Immobilienbesitzer ihre Fassaden neu streichen, die Stadtteile müssen in ihrer Substanz attraktiver werden. Straßen, Wohnviertel und Stadtteilzentren sollten flächendeckend so gestaltet werden, wie das in modernen Städten heute üblich ist. Dazu sind die Stadtteile in Gänze zu überplanen, nicht nur wenige ausgewählte Parks, Straßen und Plätze.
Zusätzlich ist die Wohnungspolitik so auszugestalten, dass in den Stadtteilen gezielt schwer sanierungs- und modernisierungsbedürftige Immobilien mit städtischen Finanzmitteln aufgekauft, Instand gesetzt und Einwohner*innen zum selbst Bewohnen wieder verkauft werden. Auch dieses Vorgehen wirkt der zu beobachtenden Verschärfung der sozialen Schieflage in den entsprechenden Stadtteilen wirksam entgegen.
Schluss mit Symbolpolitik
Zu hoffen ist, dass Politik und Verwaltung möglichst schnell erkennen, dass die bisherigen Anstrengungen sowohl bei den Schulen wie der Stadtteilentwicklung nicht im Ansatz ausreichen, um die beschriebenen Negativentwicklungen zu stoppen und es höchste Zeit ist, mit massivem Einsatz städtischer Mittel die Probleme nachhaltig in den Griff zu bekommen.